Warum investieren so wenige Menschen am Aktienmarkt?

Ginge es nach der klassischen Portfoliotheorie von Markowitz, würde es diesen Artikel gar nicht geben. In dieser schönen, heilen Welt würde jeder entsprechend seiner Risikoneigung einen entsprechend kleinen oder großen Anteil seines Vermögens in Aktien halten und sich damit optimal auf der Effizienzlinie der möglichen Portfolios positionieren – die Sache wäre erledigt.

Wie wir wissen, sieht die Realität aber ganz anders aus: Nur etwa jeder zehnte Haushalt ist überhaupt am Aktienmarkt investiert. Das Risiko und die Unsicherheit sowie die erwarteten Renditen von Aktienanlagen stellen unter vernünftigen Annahmen keine ausreichende Erklärung dafür dar.

Deshalb wird dieses Phänomen auch als „Participation Puzzle“ bezeichnet. In diesem Beitrag gehen wir der Sache auf den Grund und zeigen, welche Faktoren dazu beitragen.

Besonders in Deutschland, aber auch in anderen Ländern ist der Anteil der an am Aktienmarkt investierten Bevölkerung sehr niedrig. Untersuchungen der EZB zufolge waren 2017 nur 8,6 Prozent aller Haushalte in Aktien und 10,2 Prozent in Fonds investiert. [1] Selbst in den kapitalmarktaffinen USA sind rund zwei Drittel aller Haushalte nicht direkt in Aktien engagiert. [2]

Das ist vor allem deshalb verblüffend, weil der Aktienmarkt in Sachen Rendite alle anderen großen Anlageklassen auf lange Sicht weit übertroffen hat. Bevor wir uns die Erklärungen für dieses Phänomen anschauen, soll es aber um die Folgen gehen. Denn diese sind auf lange Sicht durchaus gravierend.

 

Aktienquote Länder
Aktienquoten verschiedener Länder
Die Grafik zeigt, wie hoch der Anteil der direkt am Aktienmarkt investierten Bevölkerung in verschiedenen Ländern ist. Quelle: Guiso, L. / Sapienza, P. / Zingales, L. (2008), Trusting the Stock Market, Journal of Finance

Zunehmende Ungleichverteilung

Die geringe Partizipation hat neben den offensichtlichen, realen Rendite- und Kaufkraftverlusten auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Insbesondere ist die Ungleichverteilung des Vermögens in der Bevölkerung in den letzten 30 Jahren dramatisch angestiegen. Studien zeigen, dass der Aktienmarkt bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Denn im Durchschnitt sind Menschen, die am Aktienmarkt investieren, wohlhabender als andere. Diese Differenz nimmt aufgrund der an den Märkten langfristig positiven Renditen weiter zu. [3] Um diese Entwicklung zumindest abzuschwächen, müssten sich die nicht investierten Bevölkerungsschichten sehr viel stärker am Aktienmarkt engagieren.

Doch warum passiert das nicht? Wir haben uns dazu die wissenschaftliche Literatur angeschaut und die wichtigsten Erklärungen zusammengetragen.

Höherer IQ, höhere Partizipation

Eine im Journal of Finance veröffentlichte Studie zeigt, dass die Partizipation am Aktienmarkt mit dem Intelligenzquotienten zusammenhängt. [4] Und zwar interessanterweise unabhängig (!) von Faktoren wie Vermögen, Einkommen, Alter und Geschlecht. Mit zunehmendem IQ halten Menschen außerdem nicht nur einen höheren Anteil an Aktien und Fonds, sondern tragen dank besserer Diversifikation überwiegend auch nur moderate Risiken.

Umgekehrt erzielen Menschen mit niedrigerem IQ und entsprechend niedrigerer Partizipation am Aktienmarkt langfristig geringere Renditen. Diese Differenz – vergrößert durch den Zinseszinseffekt über viele Jahre – trägt entscheidend dazu bei, dass sich der Vermögensunterschied in der Bevölkerung stärker ausweitet, als allein durch direkte Einkommensunterschiede erklärbar ist.

Im Fazit ihrer Studie verweisen die Autoren zudem auf andere Untersuchungen, die zeigten, dass Menschen mit niedrigem IQ – wenn sie doch am Aktienmarkt partizipieren – häufiger Fehler machen, größere Risiken eingehen und höhere Handelskosten verursachen.

Auch treten in dieser Anlegergruppe ungünstige verhaltensbasierte Phänomene wie der Dispositionseffekt (Gewinne mitnehmen, Verluste laufen lassen) häufiger auf. Es ist offensichtlich, dass sich diese Faktoren systematisch negativ auf die Renditeaussichten auswirken.

Eine Frage des Vertrauens

Eine weitere wichtige Erklärung für die niedrige Partizipation ist mangelndes Vertrauen in die Kapitalmärkte. So kommt ein im Journal of Finance publiziertes Paper zu dem Schluss, dass dieser Faktor die niedrige Partizipation erklären kann, selbst wenn sonst keine anderen Hindernisse vorliegen. [5]

In der Praxis zeigt sich vor allem in Krisenzeiten die entscheidende Bedeutung von Vertrauen – während es einerseits langsam und über lange Zeit erarbeitet werden muss, kann es andererseits schnell und abrupt verlorengehen.

Dazu passt, dass auch der Recency Bias eine Rolle spielt: Positive Erfahrungen aus der letzten Zeit (ein Bullenmarkt) erhöhen die Bereitschaft zur Partizipation am Aktienmarkt, während negative Erfahrungen (etwa ein Crash) die Bereitschaft reduzieren. [6]

Die Bedeutung positiver Erfahrungen mit Aktien bestätigt auch eine andere Studie: Demnach sind sowohl die für die Zukunft erwarteten, als auch die in der Vergangenheit erzielten Renditen positiv mit der Partizipation korreliert. [7]

Die Möglichkeiten kennen

Das Bewusstsein der Menschen über Anlagemöglichkeiten ist umso höher, je besser deren Bildung, Vermögen und Einkommen ist. Das klingt plausibel. Dabei spielt aber auch ein weiterer Effekt eine Rolle: Die Menschen müssen die Möglichkeiten für Investments überhaupt erstmal kennen.

Man mag es kaum glauben, aber repräsentative Erhebungen in Italien haben noch Ende der 1990er Jahre gezeigt, dass sich viele Menschen gar nicht darüber bewusst waren, dass einfache Finanzinstrumente wie beispielsweise Aktien und Fonds existieren. [8] Die Autoren vermuten, dass die Partizipation sofort stark zunehmen würde, wenn alle Menschen die Möglichkeiten erkennen und verstehen würden.

In diese Kerbe schlägt auch eine andere Studie: Dort kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Haushalte, die eine Finanzberatung in Anspruch nehmen, eine höhere Partizipation aufweisen. Der positive Effekt ist dabei in Haushalten mit geringer Finanzbildung besonders deutlich – entscheidend ist hierfür aber auch das Vertrauen in die Beratung. [9]

Politische Grundhaltung

Neben den beschriebenen, eher unbewussten Erklärungsfaktoren für die niedrige Partizipation kann es auch sein, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen ganz bewusst weniger oder gar nicht am Aktienmarkt engagieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine finnische Studie, die zeigt, dass die Partizipation mit der politischen Gesinnung zusammenhängen kann.

Moderat linksgerichtete Menschen haben demnach mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 20 Prozent ein geringes Aktienexposure als moderat Rechtsgerichtete. [10] Die Autoren der Studie schlussfolgern, dass persönliche Werte eine Rolle beim Participation Puzzle spielen, die im Extremfall bis hin zu einer „Aktienmarkt-Aversion“ führen können.

Kombinierter Effekt

Die beschriebenen Faktoren tragen alle dazu bei, dass die Partizipation letztlich so niedrig ist. Man kann sich darüber streiten, welcher Einfluss dabei dominiert und wie sich die einzelnen Faktoren auch gegenseitig in ihrem Erklärungsgehalt beeinflussen. Diese Fragen sind aber eher akademischer Natur. Entscheidend für die Praxis ist, dass kein einzelner Faktor die alleinige Ursache darstellt.

Das ist gleichzeitig auch das große Problem bei der Frage, wie sich die Partizipation deutlich und nachhaltig verbessern lässt: Hier sind wirklich umfangreiche und vor allem langfristige Anreize und Maßnahmen in verschiedenen Bereichen erforderlich. Eine „schnelle“ Lösung gibt es nicht.

Das Ziel muss es sein, dass die Menschen in der Breite der Bevölkerung ihre Möglichkeiten kennen, sich der langfristigen Renditechancen bewusst sind und das Vertrauen haben, sich umfangreich zu engagieren. Oder anders ausgedrückt: Es braucht eine positive Aktienkultur. Momentan sind wir davon aber gerade in Deutschland – leider auch politisch – meilenweit entfernt.

Fazit

Die niedrige Partizipation lässt sich durch mangelnde Bildung (insbesondere bei Finanzthemen), fehlendes Vertrauen in die Märkte und Institutionen sowie eine politisch eher linke Einstellung erklären. Dies verstärkt langfristig die ohnehin gegebene Ungleichverteilung des Vermögens in der Gesellschaft.

Quellen:

  • [1] The Household Finance and Consumption Survey: Results from the 2017 Wave, ECB Statistics Paper Series Nr. 36 (März 2020), S. 10
  • [2] Antoniou, C. / Harris, R. / Zhang, R. (2013), Ambinguity Aversion and Stock Market Participation: Evidence from Fund Flows, University of Exeter Business School
  • [3] Favilukis, J. (2013), Inequality, Stock Market Participation, and the Equity Premium, Journal of Financial Economics, Vol. 107, Nr. 3, S. 740-759
  • [4] Grinblatt, M. / Keloharju, M. / Linnainmaa, J. (2011), IQ and Stock Market Participation, Journal of Finance, Vol. 66, Nr. 6, S. 2121-2164
  • [5] Guiso, L. / Sapienza, P. / Zingales, L. (2008), Trusting the Stock Market, Journal of Finance, Vol. 63, Nr. 6., S. 2557-2600
  • [6] Ampudia, M. / Ehrmann, M. (2014), Macroeconomic Experiences and Risk Taking of Euro Area Households, Household Finance and Consumption Network, Working Paper Nr. 1652
  • [7] Arrondel, L. / Calvo Pardo, H. / Tas, D. (2014), Subjective Return Expectations, Information and Stock Market Participation: Evidence from France, University of Southampton
  • [8] Guiso, L. / Japelli, T. (2005), Awareness and Stock Market Participation, Review of Finance, Vol. 9, Nr. 4, S. 537-567
  • [9]Georgarakos, D. / Inderst, R. (2014), Financial Advice and Stock Market Participation, Goethe University
  • [10] Kaustia, M. / Torstila, S. (2011), Stock Market Aversion? Political Preferences and Stock Market Participation, Journal of Financial Economics, Vol. 100, Nr. 1, S. 98-112

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